Bitte stellen Sie sich folgendes Szenario vor:
Sie begeben sich vertrauensvoll in die Hände Ihrer geschätzten Physiotherapeutin, um sich nach einer sportbedingten Überlastung des rechten Schultergelenks während eines Badmintonturniers, physiotherapeutisch den Weg zurück zur uneingeschränkten Aktivität zu erkämpfen. Statt allerdings der Bewegungseinschränkung mittels sanfter Manueller Therapie oder der leichten Dyskoordination mittels krankengymnastischer Funktionsschulung zu Leibe zu rücken, zückt die Therapeutin ein langes Gummiband (Flossband) und wickelt Ihre Schulter so fest damit ein, dass Sie beinahe klaustrophobische Anfälle bekommen. Nachdem das Band nun unheimlich fest Ihre Schulter umschließt, fordert Sie die euphorisch wirkende Therapeutin auf, Ihren Arm in maximaler Bewegungsamplitude zu beugen und zu strecken, abzuspreizen und zu drehen. Als Sie es aus eigener Kraft nicht mehr schaffen, Ihrem Arm willkürlich selbst auch nur kleinste Wackelbewegungen abzuringen, legt sich Ihre Behandlerin erst richtig ins Zeug und bewegt den Arm kurzerhand selbst in den größten Bewegungsbahnen. Nach 3 „qualvollen" Minuten, in denen Sie an der Welt und auch an sich selbst zweifeln, werden Sie durch das Abwickeln des Bandes erlöst.
Das hier dargestellte Szenario, welches wie ein Alptraum anmutet, ist seit noch nicht allzu langer Zeit die Anwendung einer Therapiemaßnahme die ihren Weg unter dem zweifelhaften Begriff des Voodoo Flossings aus den USA nach Deutschland fand.
Das Abbinden zu therapeutischen Zwecken wird in Japan bereits seit geraumer Zeit erforscht und erfolgreich angewandt. In Deutschland bekannt wurde die Methode durch den medial sehr wirksamen Physiotherapeuten und Bewegungsexperten Dr. Kelly Starrett, dessen Buch „Werde ein geschmeidiger Leopard" als Bestseller die Physiotherapie und Functional Training Community aufmischte. Darin beschrieb er Methoden zur Verbesserung von Bewegungsamplituden in steifen und auch in schmerzenden Gelenken.
Kurz nach der Veröffentlichung dieses Buches etablierten sich in Deutschland erste Konzepte und Kurse, in denen es die Referenten auf experimentierfreudige und wissensdurstige Therapeuten, Mediziner, Sportler und Heilpraktiker abgesehen hatten und die Anwendung des Bandes lehrten. Bis heute hält sich die wissenschaftliche Forschung über die Wirksamkeit und auch das Wirkspektrum in Grenzen. Es gibt, bezogen auf die Verbesserung der Bewegungsamplituden vor allem eine Erkenntnis. Die Patienten geben subjektiv nach der Anwendung des Flossings ein deutlich verbessertes Bewegungsgefühl im behandelten Gelenk und den damit verbunden Funktionen an.
Schwellungen können sofort reduziert werden und Schmerzen lassen nach.
Empirisch spricht einiges für die Anwendung der geheimnisvollen Technik. Wissenschaftlich gilt es aber nachzuweisen in wie fern sich die Wirkungsweisen objektivieren lassen. Einige Arbeiten konstatieren vor allem eine psychische Wirkung, die positiv das Bewegungsverhalten beeinflusst.
An der Medizinischen Berufsfachschule sind die Auszubildenden der Abteilung Physiotherapie immer interessiert an neuen Erkenntnissen und Wissenserwerb.
Der Blick über den therapeutischen Tellerrand festigt dabei bereits erworbene Kenntnisse und liefert Impulse zur Aneignung neuen Wissens und füllt mitunter auch bestehende Lücken.
In einem Flossingkurs an der Medizinischen Berufsfachschule lernten die angehenden Physiotherapeuten und Physiotherapeutinnen des zweiten und dritten Lehrjahres diese spezielle Therapieform kennen. Der Referent, Herr Roland Kreutzer aus Marburg, informierte die Teilnehmenden in einer hervorragenden Kursstruktur über die physiologischen Hintergründe der Wirkungsweise vom sogenannten Functional Flossing. Vor allem aber wurde die Anlage der Flossbänder an den unterschiedlichsten und relevanten Gelenkkomplexen und Körperarealen praktisch geübt.
Im Kurs konnten die Schülerinnen und Schüler sowohl die technischen Anlagen und motorischen Fertigkeiten in der Anwendung mit dem Flossband kennenlernen, aber auch die Wirkung des Bandes am eigenen Leibe spüren, die sich entfaltet, wenn ein straff umwickelter Muskel scheinbar vom Stoffwechsel ausgeschlossen wird und dann auch noch mittels therapeutischer Übungen zur Aktivität angeregt wird. Nicht nur, dass bei einer Unterschenkelanlage der eigene Fuß leichenblass wird. Vielmehr entwickelt sich ein sogenannter ischämischer Schmerz, so wie ihn Patienten mit paVK beschreiben, der als Folge einer Minderdurchblutung im Bereich der Wicklung des Bandes und unterhalb davon auftritt. Nach drei bis fünf Minuten wird der Unterschenkel wieder ausgewickelt und der Klient befreit. Unmittelbar erfolgt ein massiver Einstrom an Flüssigkeit zurück in die betroffenen Areal und sorgen für ein „Ausspülen" von Gebieten, die vom Stoffwechselgeschehen vernachlässigt wurden. Durch die Bewegung unter der straffen Wicklung des Flossbandes kommt es zu Mikrorissen im Bindegewebe an Stellen, wo Restriktionen die Beweglichkeit einschränken. Patienten, die „geflosst" wurden beschreiben unmittelbar nach der Therapie ein freieres und leichteres Bewegen in den betroffenen Gelenken („Gehen, wie auf Wolken"). Die bereits veröffentlichte Literatur beschreibt die Wirkmechanismen und -effekte der Behandlung und stellt das Interventionsspektrum des Flossings dar.
Die Reaktionen der Teilnehmenden nach dem Kurs waren durchweg positiv, so dass auch im nächsten Jahr wieder Voodoo-Zauber an der medizinischen Berufsfachschule herrschen wird.